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Judith Menne

Die Schönheit im Zerbrochenen entdecken – Kintsugi




Unser Leben besteht aus Ganzheit und Bruch zugleich. Wunderschöne Momente gehören zu unserem Leben genauso, wie der Schmerz. Wieviel zerbrochene Träume, Beziehungen, Freundschaften und Pläne liegen hinter uns?

Wie oft sind wir am Zusammenfügen, Reparieren und wieder Verschmelzen?


Doch wir haben den Eindruck, dass unsere Gesellschaft diese Schwächen, Wunden und Risse nicht sehen möchte. Es gibt nur richtig und falsch. Und daher wird optimiert, perfektioniert und Makel werden vertuscht.

Was wäre, wenn wir die Schönheit im Zerbrochenen, in Rissen und Wunden sehen könnten? So wie es die japanischen Künstler mit ihrer Technik Kintsugi sehen.


Kintsugi ist eine von langer Tradition geprägte japanische Technik, zerbrochene Keramik zu reparieren. Kintsugi versucht nicht, die Makel der Reparatur zu verbergen, vielmehr betont es diese durch die Verwendung von Gold- oder Silberpigmenten im Lack – und erschafft so eine neue Schönheit und Wertschätzung des ursprünglichen Objekts.

Die Japaner glauben, dass eine Wunde oder Verletzung etwas nicht kaputt macht, sondern einfach nur anders.

Die Geschichte hinter Kintsugi erzählt, dass Kintsugi auf Ashikaga Yoshimasa, einen Shōgun des 15. Jahrhunderts, zurückzuführen ist. Nachdem er eine seiner chinesischen Teeschalen aus Versehen zerbrach, schickte er diese zur Reparatur nach China – und wurde von dem endgültigen Ergebnis schwer enttäuscht. Daraufhin legte er japanischen Kunsthandwerkern ans Herz, eine ästhetisch ansprechendere Methode zu entwickeln, um seine Lieblingsschale wieder ansehnlich zu machen. Das Ergebnis war Kintsugi.

In einem vielstufigen und lang andauernden Prozess werden auseinandergebrochene oder gesprungene Keramiken repariert. Dazu wird spezieller Lack in mehreren Schichten aufgetragen, wahlweise mit goldenen oder silbernen Pigmenten bestäubt und anschließend poliert.

Die zerbrochenen Stücke werden glatt und geschmeidig zusammengefügt und ergänzen sich zu einem neuen Ganzen, das der Schönheit des Originals in nichts nachsteht.


Was können wir von Kintsugi lernen?

Das Leben ist wie Keramik – zerbrechlich und wunderschön zugleich. Innerhalb kurzer Zeit kann unser Leben sich wie ein Scherbenhaufen anfühlen. Die Auslöser für das Gefühl sind so unterschiedlich, wie wir Menschen. Für ein kleines Kind ist der Verlust des Kuscheltieres eine Katastrophe, für den 10jähren Jungen die 5 in der Mathematikarbeit. Der erste Liebeskummer, Mobbing, Ausgrenzung, Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung und der Tod eines lieben Menschen reißen schmerzhafte Wunden in unser Leben.

Körperliche und emotionale Schmerzen gehören zu unserem Leben dazu. Auch wenn wir sie gerne überspielen, verdrängen oder verleugnen. Unsere Gesellschaft trägt Ihren Teil dazu bei. Depressionen und andere psychische Erkrankungen unterliegen immer noch einem Tabu. Optimale Lebensläufe, ohne Zeiten der Krisen und des Scheiterns werden gerne gesehen. Zeigen sollen wir unsere großartigen Augenblicke, unsere Glanzzeiten.

„Brüche“ und „Narben“, die wir durch das Leben erfahren haben, werden versteckt und vertuscht.

Das führt dazu, dass wir früh lernen, die Schmerzen weg zu stecken, nicht zu fühlen. Tipps wie: „Das wird schon wieder!“ „Ist doch nicht so schlimm!“ führen zu unsachgemäßem und hässlichem Zusammenfügen der Risse. Dabei sind die Tränen, die Trauer und die Zeit des „Wunden lecken“ die Voraussetzung für eine Heilung. In sich gehen, reflektieren und analysieren, alles das braucht seine Zeit. Um dann mit vergoldeten Narben wieder da zu sein, das Leben anders zu leben und zu genießen.

Jeder von uns ist so einzigartig, fühlt und heilt einmalig. Während des Kintsugi-Prozesses entdecken wir unsere wirklichen Bedürfnisse und Stärken. Können wachsen und uns entwickeln. Das macht uns zu einem wunderschönen Gefäß.


Was wäre also, wenn wir keine Angst mehr vor Rissen und Brüchen hätten? Wenn wir uns weigerten, sie zu verstecken oder sie sogar noch extra golden akzentuieren würden?


Aus dieser Perspektive betrachtet wären diese Brüche und Linien gerade das, was uns als Mensch ausmacht. Sie gehören zu unserem Leben - und dieses Geschenk dürfen wir entsprechend schätzen.


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